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Die Stimmen von Huarochirí : Indianische Quechua-Überlieferungen aus der Kolonialzeit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Eine Analyse ihres Diskurses
Bok av Sabine Dedenbach-Salazar Sáenz
Unser Wissen über die indianischen Kulturen Lateinamerikas der späten vorspanischen Zeit und der frühen Kolonialzeit beruht fast ausschließlich (wenn man von den archäologischen Funden und Befunden absieht) auf Texten, die in der frühen Kolonialzeit aufgezeichnet wurden. Die meisten dieser Texte wurden von Angehörigen der europäischen Kultur, in weiten Teilen Lateinamerikas von im Mutterland oder in den Kolonien geborenen Spaniern verfaßt. Im großen Ganzen sind dabei zwei Textgattungen zu unterscheiden: zum einen Erzähltexte wie Chroniken und Reiseberichte, zum anderen für Verwaltungszwecke erstellte Texte, wie Dokumente über Inspektionsreisen oder Bittstellungen an den Staat. Einige wenige Erzähltexte sind von Mitgliedern der indianischen Bevölkerung geschrieben worden; und in einigen Verwaltungsdokumenten werden auch Standpunkte indianischer Personen wiedergegeben, z.B. als Zeugen oder in Testamenten. Beide Sorten Text sind aber in allen Fällen auf europäischen Formen basierende Ausdrucksmittel, die sich okzidentaler Kodifizierungs- und Darstellungssysteme bedienen. Die Schreibung der Geschichte der indianischen Bevölkerung (und natürlich auch der spanischen in Lateinamerika) beruht also fast gänzlich auf Quellen, die nicht nur von der Form her europäisch sind, sondern auch europäische Standpunkte vertreten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein mußte die andine Historiographie also schon aufgrund der Quellenlage eine deutliche Gewichtung zugunsten der europäischen Sichtweise widerspiegeln. Texte indianischer Autoren tauchten erst im 20. Jahrhundert in verschiedenen Archiven auf (d.h. sie wurden erst jetzt zur Kenntnis genommen) und eröffneten damit die Möglichkeit, nun - obwohl selektiv und nicht repräsentativ - auch die Stimmen der indianischen Bevölkerung zu hören. Somit stehen dem Forscher heute zwei Arten von Sichtweisen zur Verfügung: die der dominierenden spanischen Kolonialherren und die der unterworfenen indianischen Bevölkerung. Beide müssen gelesen und interpretiert werden, wenn wir uns ein Bild der kulturellen Gegebenheiten und sozialen Prozesse machen wollen. Ich verwende bewußt die Formulierung 'ein Bild machen', denn spätestens im Zuge der postmodernen Debatte vertiefte sich die Erkenntnis, daß Geschichte nicht ohne weiteres im Sinne von Fakten rekonstruierbar ist, sondern vielmehr aus dem Diskurs, der Darstellung der Beteiligten und späterer Interpreten besteht. 1 Dies hat uns einen neuen Blickwinkel auf die Vergangenheit und ihre Re-Konstruktion eröffnet. Wir haben erkannt, daß unsere Arbeitsgrundlage die unterschiedlichsten Berichte, Zeugnisse und Darstellungen (sowohl schriftlicher als auch für die neuere Zeit mündlicher Art) sind, die uns von verschiedenen Personen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Zugehörigkeit überliefert wurden. Geschichte besteht also nicht aus erfaßbaren Fakten, sondern aus dem Diskurs über Fakten. Das bedeutet, daß wir nun mit Hilfe von Methoden 2 unterschiedlicher Disziplinen (Ethnohistorie, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Ethnolinguistik) versuchen müssen, Entstehungsumstände und Inhalte dieser Texte zu verstehen, um uns ein differenziertes Bild von Gegebenheiten und Abläufen machen zu können. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Ansätze, wie die Texte als solche analysiert werden können, vorzustellen und sie darauf anzuwenden.