Grimms Märchen in China : Begegnung, Rezeption und Wirkung

Bok av Xia Lu
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm (Grimms Märchen, die grimmschen Märchen) sind ein Wunder der Weltliteratur! Sie sind neben der Luther-Bibel das bekannteste und weltweit verbreitetste Buch der deutschen Kulturgeschichte. Auch in China sind sie sehr verbreitet und beliebt. Sie scheinen gleichsam die ,Hausbibel' in der chinesischen Familie zu sein und verdienen ihren Namen Kinder- und Hausmärchen gerade in der chinesischen Familie. Die grimmschen Märchen begleiteten meine Kindheit und prägten stark meine Gedanken über Deutschland und dessen Kultur. Als ich mich noch später weit mehr mit der deutschen Kultur beschäftigen konnte, begegnete ich Professor Yang Wu-Neng an der Sichuan- Universität Chinas und Professor Dr. Axel Gellhaus an der RWTH Aachen. Dank ihrer Anregung und Unterstützung sowie meinem Interesse an diesem Wunder der Weltliteratur wollte ich mich für die Forschung über Grimms Märchen einsetzen. Zu meinem Erstaunen aber steht am Anfang meiner Forschungen das Ergebnis, dass trotz der grössten Popularität die grimmschen Märchen von der akademischen Welt Chinas weitgehend ignoriert wurden.Die bisherige Forschung wird dem Ruhm und der Verbreitung der grimmschen Märchen in China keineswegs gerecht. Vor allem fehlt eine Untersuchung der literarischen Rezeptionsgeschichte der grimmschen Märchen in China seit ihrer Aufnahme bis zur Gegenwart. Dies stärkte meine Entschlossenheit, mich der Forschung der grimmschen Märchen zu widmen, um die schmerzhafte Lücken schließen zu helfen und ähnliche Forschungen anzuregen. Durch meine Arbeit möchte ich möglichst ein Gesamtbild geben über die Begegnungsgeschichte der grimmschen Märchen mit China, über ihre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte in China. Zugleich möchte ich dadurch die grundverschiedene chinesische Weltanschauung und Gedankenwelt im Vergleich zu Deutschland herausarbeiten, um mehr Verständnis für die unterschiedliche Kulturen zu fördern.Vor der Aufnahme der grimmschen Märchen hatten Chinesen diese spezifische literarische Gattung nicht. Aber das bedeutete nicht, Chinesen hätten keine eigenen Märchen gehabt. Im ersten Kapitel weise ich auf die Tatsache hin, dass schon im 9. Jahrhundert, in der Tang-Dynastie es in Chinas eine Variante von Aschenputtel gab. Aber wegen der unterschiedlichen Kulturen und sozialen Hintergründe gab es unter den Chinesen keine mit den Brüdern Grimm vergleichbaren Literaten-Forscher, die Märchen sammelten und bearbeiteten und damit Erfolg hatten. Die chinesische Aschenputtel-Variante "blieb im alten Papier" und wurde nie zu einem der beliebtesten und populärsten Märchen wie das deutsche Aschenputtel. Schuld daran dürfte vor allem der Konfuzianismus Chinas haben. Er sorgte dafür, dass China bis vor dem 20. Jahrhundert weder Märchen noch sogenannte Kinderliteratur hatte.Anfang des 20. Jahrhunderts brach ein Übersetzungsboom in China aus. Dabei begegneten Chinesen zum ersten Mal grimmschen Märchen aus dem fernen Deutschland und lernten zum ersten Mal die neue literarische Gattung Märchen kennen. Im zweiten Kapitel zeige ich auf, wie und warum der Übersetzungsboom und die folgende bekannte ,Vierter-Mai-Bewegung" dazu führten, dass ,fortschrittliche" Chinesen zu einer völlig neuen Auffassung von Kindheit gelangten und den Eigenwert des Kindseins schließlich anerkannten. Anschließend entwickelte sich die eigene Kinderliteratur und die neue literarische Gattung Märchen verbreitete sich sehr rasch in China.Mit dem Übersetzungsboom sowie der Entwicklung der chinesischen Kinderliteratur begannen auch Grimms Märchen ihre etwa 100jährige Rezeptionsgeschichte in China: von der ersten Übersetzung von Zhou Gui-Sheng 1902 bis