Schreibentwicklung und Identitätsfindung : Ein Beitrag zu einer kompetenzorientierten Schreibdidaktik

Bok av Hartmut Frentz
Eine Befragung von Sekundarstufenschülerinnen und -schülern bezüglich der Bedeutung undFunktion ihrer persönlichen Schreibtätigkeit führte unter anderem zu zwei Antworten, diekaum unterschiedlicher ausfallen konnten:Corinna (15 Jahre) schrieb:"Schreiben ist für mich wie ein Ventil. Es hilft mir, mich von meinen Sorgen zu befreien.Aber nicht nur das. Ich werde mir über meine Gedanken, Gefühle und Wünsche klarer. Außerdemmacht es mir viel Spaß!"Sven (14 Jahre) formulierte:"Schreiben ist für mich Zwang. Ich schreibe nur, wenn ich das muss. Das gibt mir nichts. Warumdas so ist, weiß ich nicht."Bei einer näheren Betrachtung der Umstände, die zu diesen Antworten führten, zeigte sich,dass Corinna nicht nur über bessere Schreibleistungen im Deutschunterricht verfügt, sondernauch über eine prinzipielle Freude am Schreiben. Auf weitere Fragen zu ihrer Schreiberbiografieantwortete sie relativ umfangreich. Sie erinnert sich gern an ihre ersten Schreiberlebnisse:Es ging um Kartengrüße aus den Ferien, die sie ihrer Oma schon vor der Einschulung zukommenließ. Sie schreibt sehr oft, auch außerhalb von Schule. Gedichte und kurze Erzählungensind ihre Domäne. Aufsatznoten unterhalb des "Sehr gut" gibt es nicht.Aus dem Kontext der Antwort von Sven wurde das Gegenteil deutlich: Er hat weit reichendeSchwierigkeiten im Textschreiben und Probleme beim Erkennen der Ursachen. Seine erstenSchreiberlebnisse hat Sven vergessen. Er weiß nur, dass ihm Schreiben noch nie Spaß bereitethat. Schulisches Schreiben ist ihm eine Last. In seiner Freizeit meidet er die ungeliebte Tätigkeitund verbringt die meiste Zeit am Computer spielend und die Weiten des Internets erkundend.Seine Aufsätze waren und sind stets ein Desaster.Dieses Beispiel steht nicht nur für die außerordentlich starke Differenziertheit schreibunterrichtlicherVoraussetzungen und Ergebnisse, es illustriert auch eine umfassende schreibdidaktischeFragestellung:Wie kann es gelingen, Heranwachsenden eine solche Schreibmotivation und Schreibkompetenzzu vermitteln, die es ihnen ermöglicht, sich nicht nur im gesellschaftlichen Diskurs zubehaupten, sondern sich auch als Persönlichkeit selbst zu finden und zu entwickeln?