Die Schwestern : Krimi

Bok av Günther Gutknecht
Azurblau - jeder nannte es azurblau. Der strahlendblaue Himmel gibt dem Meer die Farbe - himmelblau.Ein unhaltbares Klischee. Das Blau war viel dunklerals die Farbe des Himmels und von solcher Intensität,dass er stehen geblieben war, um dieses Blau in sich aufzunehmen,aufzusaugen, um es nie mehr vergessen zukönnen. So stand er minutenlang, ehe er sich besannund den steinigen Hang hinunterlief, dem Blau entgegen.Aber das zog sich hin. Er glaubte sich dem Meerviel näher, als er es tatsächlich war. Nach mehr als einerhalben Stunde hatte er erst den steinigen Hang hintersich gelassen, die Strecke, die er noch zurücklegen musste,würde mindestens ebenso lange dauern.So ging er weiter. Die Sonne glühte auf seinenHaaren, doch unverdrossen beschleunigte er seinenSchritt. Nun, auf Augenhöhe mit dem Blau, verändertesich das Farbspektakel. Das Blau verlor sich in einemflirrenden Geglitzer auf der Oberfläche des Meeres,die fortwährend in Bewegung zu sein schien und sich soständig veränderte. Erst nahe des Horizontes fand er daszuvor noch nie gesehene Blau wieder.Schließlich erreichte er den Strand. Er stapfte überunzählige kleine Steine, bis er das Wasser endlicherreicht hatte. Er watete ein kleines Stück hinein. DasWasser um ihn herum war hier nicht mehr blau. Eserschien ihm bald weiß, bald braun und dann wiedergrün, aber nicht blau. Das atemberaubende Blau zeigtesich ihm erst wieder, als er den Blick hob.10Erschöpft ließ er sich auf die Knie fallen. So verharrte erlange, während die sanfte Dünung das Wasser bis überseine Hüfte ansteigen und dann wieder zurückfließenließ. Begleitet wurden diese rhythmischen Bewegungenvon einem feinen Rauschen und Gurgeln, das anundabschwoll, das hin und wieder gänzlich gegen dieansonsten gleichbleibende Rhythmik in ein Klatschenüberging, wobei ihm unzählige Wassertropfen gleichsameiner Dusche ins Gesicht schossen und kühle, feuchteFlecken auf seinem Hemd hinterließen.In dem Augenblick, als sich das Wasser gerade wiedereinmal zurückzog, verdunkelte sich die Wasserfläche vorihm etwas, und er drehte sich rasch um. Er erkannte eineweibliche Gestalt mit wehenden, langen, roten Haaren,und er erhob sich augenblicklich. Die Gestalt lächelte.Sie trug ein weißes Gewand, das bis in das Wasser reichte.»Wer bist du?«, frage er. Die Weißgewandete lächeltebei dieser Frage noch mehr, streckte die Hand nach ihmaus und sagte: »Komm.« Er ließ sich bedenkenlos vonihr führen. Da begann die Weißgewandete zu singen. Siesang ohne Worte, und die melismatischen Figuren ihresGesangs drangen in seine Seele und ergriffen Besitz vonihm.So erreichten sie bald einen Pinienhain. Die Fremdebeendete ihren Gesang, und die beiden setzten sich inden Schatten der Bäume.»Wer bist du?«, fragte er erneut. Sie saßen sich gegen über, und sie ergriff mit ihren Händen die seinen undsagte:»Ich bin Leukosia.«»Leukosia? Das klingt griechisch. Leukosia? Es gibteinen Mythos über Leukosia, genannt die Weiße.«11»Ich bin Leukosia«, fing die Weißgewandete wieder zusprechen an, und jetzt sah er, dass ihr weißes Gewanddurchscheinend war und dass sie nichts darunter trug.»Ich bin Leukosia, die Weiße«, und jetzt erst gewahrteer ihre Augen, grüne Augen, geheimnisvolle undundurchdringliche Augen. Da bereute er, dass er mitgegangenwar, mit ihr - diesen Weg, zu diesem Pinienhain,wo sie jetzt saßen. Und er begriff, was er, was jedermannwusste, dass es Wege gibt, die unumkehrbar sind, undschlimmer noch, die Handlungen, die Geschehnisse sindes. Selbst wenn er alleine den Weg dahin zurückginge,wo er hergekommen war, den Weg mit Leukosia war erdennoch gegangen - unumkehrbar.»Du hast mich gesucht, und du hast mich gefunden«,sagte Leukosia und umschlang ihn.Fahrian erwachte. Er brauchte etwa eine Minute, umsich zurechtzufinden. Es war noch dunkel im Zimmer,und er sah auf den Wecker: halb vier. Neben sich hörteer das gleichmäßig sanfte Atmen von Anna. Er betrachteteihre Silhouette, die sich im Dunkeln abzeichnete.Sie lag auf dem Bauch, einen Arm hatte sie unter dasKopfkissen